Thomas ist ein schlanker Mann, trägt Brille und hört gerne klassische Musik. Was halten Sie für wahrscheinlicher? A) Thomas ist Bauarbeiter oder B) Thomas ist Philosophieprofessor in Würzburg. Wahrscheinlich war Ihr erster Gedanke, dass Thomas Philosophieprofessor ist. Das ist jedoch nicht die beste Antwort. In Deutschland gibt es tausende Bauarbeiter, wohingegen die Anzahl der Philosophieprofessoren in Würzburg im Vergleich dazu recht überschaubar sein dürfte. Daher ist es deutlich wahrscheinlicher, dass Thomas Bauarbeiter ist und gerne klassische Musik hört. Es ist ja auch nicht gesagt, dass alle Philosophieprofessoren in Würzburg auf klassische Musik stehen.
Schauen wir uns ein zweites Beispiel an. Sie sitzen in der U-Bahn und schauen sich zwei Personen an, die gegenüber von ihnen sitzen. Die erste Person ist eine Frau mit elegantem Anzug. Sie liest den Wirtschaftsteil einer überregionalen Tageszeitung. Die zweite Person ist ein Mann in weißem T-Shirt und mit Schnauzbart, der ein Kind auf dem Arm trägt. Bei welcher der beiden Personen halten Sie die Wahrscheinlichkeit für höher, dass sie in Aktien investiert ist? Nach dem ersten Beispiel vermuten Sie wahrscheinlich bereits, in welche Richtung hier zu denken ist. Ohne weiteres Hintergrundwissen zu den beiden Personen müssen wir überlegen, was angesichts der angegebenen Fakten wahrscheinlicher ist und dürfen uns nicht von Stereotypen leiten lassen.
Tatsächlich ist es so, dass im Jahr 2022 in Deutschland nur 18,3 % oder 12,9 Mio. der deutschen Bevölkerung direkt oder indirekt über Fonds in Aktien investiert waren. Dabei waren 23,4 % der Männer in Aktien investiert und nur 13,3 % der Frauen (Quelle: Deutsches Aktieninstitut). Es ist also rein auf das Geschlecht bezogen fast doppelt so wahrscheinlich, dass der Mann in unserem Beispiel der Aktienanleger ist und nicht die Frau. Die Statistik verschiebt sich, wenn wir Kriterien wie Alter, Beruf oder Einkommen in unsere Erwägungen einbeziehen würden. Derartige Angaben haben wir hier aber nicht. Daher ist das Geschlecht der einzige Bezugspunkt. Die Angaben zum Aussehen der Personen sehen wir vielleicht als Indizien, aber de facto lenken sie uns lediglich davon ab, auf die Realität zu blicken, die uns die Statistik verrät.
Base Rate Neglect
Das Phänomen, mit dem wir es hier zu tun haben, nennt die Wissenschaft Base Rate Neglect (zu Deutsch in etwa: Vernachlässigung von Basisraten). Das Base Rate Neglect ist einer der häufigsten Denkfehler, die wir begehen. Wir reden uns häufig ein, dass die Informationen, die wir gerade haben, relevanter sind als die tatsächliche Realität und vor allem sind wir blind gegenüber den Informationen, die tatsächlich relevant sind. In unserem Bauarbeiterbeispiel lassen wir uns von dem Bild im Kopf leiten, dass der bebrillte Professor in seiner Bibliothek sitzt und den Klängen Mozarts lauscht, wohingegen der Bauarbeiter in unserem Kopf vielleicht ein etwas raueres Bild formt, zu dem klassische Musik eher nicht passend erscheint. Unser Denken und unsere Einschätzungen sind von dem geprägt, was wir kennen und von den Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben. Wir sehen die Dinge mit unseren eigenen Augen. Natürlich ist es so, dass unsere eigenen Erfahrungswerte und Kenntnisse in der Regel limitiert sind. Wenn wir nun Entscheidungen treffen und dabei nur unsere eigene Sichtweise einnehmen, ist die Gefahr sehr groß, dass wir nicht alle relevanten Fakten und Informationen einbeziehen. Man nennt diese Perspektive die Innenansicht. Während wir diese Perspektive von innen einnehmen, vernachlässigen wir die Daten und Fakten, die objektiv und sinnvollerweise einzubeziehen wären. Wir denken aufgrund unserer verankerten Stereotypen von Philosophieprofessoren und Bauarbeitern nicht daran, zu überlegen, was Ansatzpunkte wären, um die Fragestellung anders zu beantworten.
Aber genau zu dieser anderen Perspektive, nämlich der Außenansicht, müssen wir uns selbst zwingen. Wir sollten uns bei Entscheidungen und Einschätzungen immer wieder selbst hinterfragen, ob es eine Perspektive gibt, die wir aktuell nicht sehen. Meistens gibt es diese. Wir sollten uns immer wieder die Frage stellen: Was ist objektiv richtig? Die Antwort auf diese Frage kann komplett konträr zu unserer eigenen Meinung, unserer Innenansicht, sein. Wenn dies jedoch der Fall ist, ist das nichts Schlechtes. Im Gegenteil, es bringt uns der Wahrheit einen Schritt näher und wird unsere Entscheidungen verbessern.
Was ist die Wahrscheinlichkeit für einen 30 %-igen Kursrutsch?
Schauen wir uns ein weiteres Beispiel an, diesmal mit Börsenbezug. Immer wieder lassen wir uns von Experten mit einer bestimmten Meinung manipulieren. Es gibt einige Menschen, die aus verschiedenen Gründen behaupten, das die Börsen fallen werden. Die Argumente scheinen oft schlüssig und plausibel.
Nicht wenige Anleger schenken solchen Aussagen über Gebühr viel Aufmerksamkeit. Grundsätzlich ist daran nichts Schlechtes, andere Meinungen und Argumente zu hören, um die eigene Innenansicht herauszufordern. In diesem Beispiel ist die Reaktion jedoch die, dass Anleger aus Angst vor dem Crash Aktien verkaufen oder sich absichern. Meistens geht das allerdings schief, weil der Crash ausbleibt oder die Aktienmärkte sogar weiter steigen und die Anleger dann entweder unterinvestiert sind oder die Absicherung sogar herbe Verluste herbeiführt.
Das Problem bei dem verbreiteten Pessimismus für die Börsen ist, dass die objektiven Wahrscheinlichkeiten nicht adäquat berücksichtigt werden. Die Basisraten werden in die Überlegung nicht einbezogen, sodass als Resultat der Innenansicht ein stärkeres Gewicht beigemessen wird als der Außenansicht. Selbstverständlich kann es sein, dass Aktienmärkte z.B. über die nächsten 12 Monate um 30 % fallen. Jede Menge kann passieren, dass ein solches Szenario eintritt. Nur wahrscheinlich ist es nicht. Wenn wir auf die vergangenen 100 Jahre zurückblicken, kam es nur zehn Mal vor, dass die Börsen (S&P500) Abschläge in dieser Größenordnung über einen Zwölfmonatszeitraum hinnehmen mussten. Die Wahrscheinlichkeit mit einem Blick von außen beträgt also nur 10 %, dass ein derartiger Kurssturz innerhalb des nächsten Jahres passiert.
Selbst wenn wir diese Außenansicht nun mit einer pessimistischen Innenansicht „verheiraten“, die beispielsweise davon ausgeht, dass die Inflation wieder zu steigen beginnt, was die Zinsanhebungen fortsetzen lässt und eine Stagnation zur Folge hat, werden wir keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Szenario von einem Kurseinbruch von 30 % argumentieren können. Dafür weiß jeder einzelne von uns zu wenig darüber, was die Zukunft für uns bereithält.
Das heißt nicht, dass die Märkte nicht um 30 % einbrechen könnten. Das können sie sehr wohl und wir werden das sicherlich irgendwann einmal wieder erleben, vielleicht auch in den nächsten 12 Monaten. Bei der Überlegung, wie wir unsere Anlagestrategie ausrichten oder wie wir unser Geld investieren, tun wir jedoch gut daran, die Negativszenarien vor dem Hintergrund der objektiven Wahrheit zu betrachten und im Zweifel einen Plan für die unwahrscheinlichen Szenarien in der Tasche zu haben.
Das Entscheidende, um das Spiel um Wahrscheinlichkeiten bei der Geldanlage auf unsere Seite zu ziehen, ist, langfristig zu denken. Denn langfristig sind die Börsen noch immer gestiegen. Wer zwischen 1928 und 2022 zu einem beliebigen Zeitpunkt in den S&P500 investiert hätte, hätte über einen Investitionszeitraum von 20 Jahren immer einen positiven Ertrag erzielt, trotz Weltkrieg, Inflationen, Rezessionen, Pandemien etc. An der Börse ist das wahrscheinlich die wichtigste Base Rate.
Fazit
Überlegen Sie z.B. bei Börsengängen zweimal, ob Sie investieren möchten. Die Historie zeigt, dass man hier aufgrund der hohen Bewertungen selten Geld verdient hat. Überlegen Sie genau, ob Sie eine “heiß“ gehandelte Aktie kaufen, obwohl sie mit einem Gewinnmultiplikator von 50 bewertet wird. Die Geschichte zeigt, dass hohe Bewertungen zu keinem ertragreichen Ende führen. Solche Fehler können vermieden werden. Basisraten zu betrachten, ist dabei ein einfaches, aber wichtiges Element, um seine eigene Einschätzung und Meinung mit der Realität abzugleichen und Entscheidungen zu verbessern.