Die Betrachtung von Dingen aus einer umgekehrten Perspektive kann die Qualität von Entscheidungen maßgeblich verbessern. In Bezug auf die Frage nach der Bewertung von Aktien eröffnet sich gar eine komplett neue Betrachtungsweise, die den gemeingültigen Grundsatz der Multiplikatorbewertung obsolet macht und einen deutlich aussagekräftigeren und zielführenderen Ansatz bietet.
Der leider jüngst verstorbene Charlie Munger war bekannt für seine Scharfsinnigkeit und seine überragende Klarheit bei der Einschätzung von Investments. Munger verwendete beim Investieren, aber auch in allen anderen Bereichen des Lebens, gerne Denkmodelle, um Struktur zu schaffen oder neue Sichtweisen zu eröffnen.
Eines der berühmtesten und wahrscheinlich am nützlichsten Denkmodelle ist dabei das des Invertierens, also der Betrachtung von Dingen von der anderen Seite aus, um neue Perspektiven und Erkenntnisse zu gewinnen. Dieses Konzept lässt sich im Alltag anwenden, beispielsweise bei einer Meinungsverschiedenheit mit einer anderen Person. Es kann hilfreich sein, sich in die andere Person hineinzuversetzen und die Situation aus deren Perspektive zu betrachten. Durch die Reflexion über die Umstände, Hintergründe etc. dieser Person lassen sich ihre Argumente und Aspekte besser verstehen.
Invertieren beim Investieren
Der Grundsatz des Invertierens ist auch beim Börsenhandel oder bei Investitionen von großem Nutzen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das aktive Suchen nach Risiken und potenziellen Problemen. Die meisten Anleger fokussieren sich auf die Attraktivität von Wachstumschancen sowie die mögliche Steigerung der Gewinne. Während so richtige und wichtige Fragen gestellt werden, eröffnet die Einnahme der Gegenposition eventuell ganz neue Einblicke. Durch die bewusste Fokussierung auf potenzielle Risiken und Schwachstellen im Unternehmen wird die Aufmerksamkeit auf die Aspekte gelenkt, die sonst leicht übersehen werden können. Die einfache Methode der Einnahme der Gegenposition kann bei der Einschätzung von Unternehmen einen entscheidenden Einfluss auf die Qualität der Investitionsentscheidung haben.
Auch bei der Frage, ob eine Aktie teuer bewertet ist oder nicht, kann das Invertieren ein nützliches Werkzeug sein. Es ist eine gängige Erfahrung, dass eine Aktie, die man im Blick oder im Depot hat, eine stattliche Bewertung aufweist. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob ein Einstieg noch lohnt oder ob die hohe Bewertung möglicherweise bereits zu hoch ist und ein Verkauf ratsam wäre.
In einer solchen Situation wenden die meisten Anleger Heuristiken an, also Vereinfachungen wie etwa pauschale Einordnungen in Kategorien. Demnach werden beispielsweise Aktien mit einem Bewertungsmultiple (z. B. dem Kurs-Gewinn-Verhältnis) kleiner als 10 als günstig und Aktien mit einem Multiple größer als 30 als teuer eingestuft. Klassifizierungen wie „Value“ oder „Growth“ gehen oft damit einher.
Derartige Vereinfachungen bergen das Risiko, dass falsche Schlüsse gezogen werden. Andererseits ist die Verwendung solcher Heuristiken verständlich. Denn die Beurteilung, ob eine Aktie auf einem gegebenen Preisniveau günstig ist oder nicht, ist anhand von Multiplikatoren nicht trivial. Es gibt keine Tabelle, aus der man mit Sicherheit ablesen kann, ob ein bestimmter Multiple als zu hoch oder zu niedrig einzustufen ist.
Bewertungskennzahl umkehren
Auf die Bewertungskennzahl lässt sich aber auch ein umgekehrter Blick werfen. An dieser Stelle verwenden wir zur Erläuterung das am Markt gängige Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV).
Die Methodik der umgekehrten Betrachtung des KGV basiert auf der Bildung des Kehrwerts der Kennzahl, der sogenannten Ertragsrendite. Aus einem KGV von 20 wird damit 1/20 = 0,05 = 5 %, aus einem KGV von 10 wird 1/10 = 10 %. Zur Erinnerung: Das klassische KGV wird ermittelt, indem der Börsenwert eines Unternehmens durch den Gewinn geteilt wird. Das KGV gibt somit an, wie lange es dauern würde, bis ein Unternehmen seinen aktuellen Börsenwert durch Gewinne erwirtschaften würde, vorausgesetzt, die Gewinne bleiben konstant. Ein KGV von 20 besagt, dass das entsprechende Unternehmen bei gleichbleibenden Gewinnen 20 Jahre benötigen würde, um seinen Börsenwert zu reproduzieren.
Der Kehrwert des KGV trifft im Prinzip die gleiche Aussage, allerdings aus einer umgekehrten Perspektive. Die Ertragsrendite gibt die jährliche implizite Rendite wieder, die ein Anleger bei gleichbleibendem Gewinn (ohne Wachstum) pro Jahr erhalten würde.
Ertragsrendite + Wachstum
Mit der umgekehrten Sichtweise ist es nicht erforderlich zu rätseln, ob ein KGV von 25 nun teuer ist oder nicht. Stattdessen können wir die korrespondierende Ertragsrendite von 4 % nun von einer uns geläufigeren Warte aus betrachten, nämlich der Betrachtung aus der Perspektive unserer Renditeerwartung, die wir an unsere Investitionen stellen. Um dies zu tun, müssen wir unsere Renditeerwartung einer Aktie ins Verhältnis mit unserer eigenen Renditeerwartung setzen. Die erwartete Rendite setzt sich aus der Ertragsrendite und der nachhaltigen, langfristigen Gewinnerwartung zusammen. Dies resultiert aus der Umstellung der sogenannten Gordon-Growth-Formel, der Basis jeglicher Cashflow-orientierter Unternehmensbewertung. Eine weitere Vertiefung der Formel würde den Rahmen an dieser Stelle jedoch sprengen.
Angenommen, man hat als Anleger eine Renditeerwartung an eine Aktie von 10 % pro Jahr und die Aktie ist mit einem KGV von 25 bewertet. Dann sollte das erwartete Gewinnwachstum der kommenden Jahre bei mindestens 6 % liegen, damit meine Erwartungen erfüllt werden können (1/25 = 4 % Ertragsrendite + 6 % Wachstum = 10 % erwartete Rendite).
Die umgekehrte Betrachtung der Bewertung ermöglicht eine völlig neue Perspektive bei der Bewertung von Investitionen. Die Umformulierung in eine Renditeerwartung ermöglicht eine einfache Bestimmung der Über- oder Unterbewertung einer Aktie. Eine Aktie ist dann zu teuer, wenn die Kombination aus Ertragsrendite und Wachstumserwartung nicht ausreichend hoch ist, um meine Renditeerwartung zu erfüllen oder zu übertreffen. Umgekehrt ist eine Aktie günstig, wenn die Renditeerwartung übertroffen wird.
Wachstumserwartungen bewerten
An dieser Stelle sei noch einmal die umgekehrte Perspektive eingenommen. Durch Umstellen der Formel nach der Wachstumsrate lässt sich ermitteln, wie hoch das Wachstum eines Unternehmens sein muss, um unsere Renditeerwartungen bei gegebenem Bewertungsniveau zu erfüllen.
Die notwendige Rate, mit der ein Unternehmen seine Gewinne über die kommenden Jahre steigern müsste, lässt sich ermitteln, indem man die Ertragsrendite von der Renditeerwartung subtrahiert. Diese Zahl kann nun dahingehend hinterfragt werden, ob sie als realistisch eingeschätzt wird. Ist dies nicht der Fall, muss die Aktie als zu teuer bewertet angesehen werden. In diesem Fall ist es empfehlenswert, Abstand zu halten.
Die Bewertung von Aktien, insbesondere im Hinblick auf die Ertragsrendite und die Wachstumserwartungen, ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Ein hohes KGV bedeutet nicht zwangsläufig, dass eine Aktie zu teuer ist. Eine hohe Bewertung anhand von Multiplikatoren kann auch bei einer hohen Wachstumsrate gerechtfertigt sein. Eine sehr günstige Bewertung anhand von Multiplikatoren ist umgekehrt kein Freifahrtschein zum Investieren, wenn das Wachstum sehr niedrig oder gar negativ ist.